Verhältnismäßig unverhältnismäßig
Mit dem Gefühl der Scham sind wir von klein auf vertraut, und auch als Erwachsene begegnen wir ihr in den unterschiedlichsten Situationen immer wieder. Kaum jemand wird sich allerdings gerne schämen – im Gegenteil: Scham ist ziemlich unangenehm. Vielleicht lohnt es sich gerade deswegen, einmal genauer hinzuschauen, was es mit diesem Gefühl auf sich hat. Meist überfällt die Scham uns ganz unmittelbar, ohne dass wir lange nachdenken müssten, warum wir uns schämen. Und löst dabei ausgesprochen körperliche Reaktionen aus: Wir beginnen zu schwitzen, werden rot oder verbergen unser Gesicht. Die Gründe, wofür und wie sehr wir uns schämen, können von Mensch zu Mensch ganz andere sein.
Scham ist aber weit mehr als ein bloß subjektives Gefühl. Psychologen und Soziologen haben ihre elementare Bedeutung für das Funktionieren von Gesellschaft beschrieben. Denn Scham verbindet das Selbstverständnis des Einzelnen unmerklich mit den je geltenden Verhältnissen, den Werten und Regeln einer Gemeinschaft. So trägt die Fähigkeit, Scham empfinden zu können, auch zum inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft bei. Eines jedenfalls wird den Besucherinnen und Besuchern dieser Ausstellung klar werden: Dass wir in schamlosen Zeiten leben – wie manche Kulturkritiker meinen – ist ein gründlicher Irrtum!
KÜNSTLERINNEN & KÜNSTLER
Nobuyoshi Araki (*1940), Leigh Bowery (1961–1994), Jörg Buttgereit (*1963), VALIE EXPORT (*1940), Christian Jankowski (*1968), Terence Koh (*1977), Leigh Ledare (*1976), Victoria Lomasko (*1978), Erik van Lieshout (*1968), Alex McQuilkin (*1980), Margret - Chronik einer Affäre (1969/70), Dennis O’Rourke (1945–2013), Bruce Richards (*1948), Rokudenashiko (*1972), Joanna Rytel (*1974), Sašo Sedlaček (*1974), Jan M. Sieber (*1975) und Ralph Kistler (*1969), Thomas Schütte (*1954), Helmut Schwickerath (*1938), Miroslav Tichý (1926–2011), Phillip Toledano (*1968), Oliviero Toscani (*1942), Danh Vō (*1975), Marie Voignier (*1974)
Gebrauchsanweisung für die Ausstellung
Gründe, sich zu schämen, gibt es fast so viele, wie es Menschen gibt. Die Auswahl, die für die Ausstellung getroffen wurde, kann darum nicht vollständig sein. Auch die einzelnen Themenfelder sind nicht trennscharf, vielmehr überlappen sie einander mehr oder weniger stark. Ähnlich ist es beim individuellen Schamempfinden: Hier überwiegen mal die subjektiven, mal die gesellschaftlichen Anteile – und manchmal sind beide gar nicht voneinander zu trennen. Weil es sich so verhält mit der Scham, finden die Besucherinnen und Besucher in der Ausstellung auch keine strenge Gliederung in Einzelbereiche vor. In allen Texten zu den einzelnen Exponaten und Kunstwerken findet sich aber ein Hinweis auf mindestens einen der 100 Schamgründe, die sich folgenden Themenfeldern zuordnen lassen.
Die 100 Gründe
Scham und Norm
Von Geburt an wird der Mensch betrachtet, vermessen, gewogen, zu- und eingeordnet. Die Wissenschaften analysieren und vergleichen diese Daten, um zu definieren, was als normal und gesund gelten soll. Übrig bleibt die Scham. Sie entsteht aus dem Gefühl heraus, solchen Erwartungen nicht zu genügen oder zu sehr von ihnen abzuweichen. Scham verbindet den Einzelnen mit der Gemeinschaft darum auf doppelte Weise: Zum einen motiviert sie uns zum Handeln im Wunsch dazuzugehören, zum anderen verhindert sie manchmal, dass wir uns anderen gegenüber überhaupt öffnen.
angeblickt werden, Erröten, vermessen werden, Babyspeck, nicht normal sein, krummer Rücken, schiefe Nase, krank sein, Hautausschlag, BMI, sich frei machen, durchleuchtet werden, Anfassen, Masturbieren, verliebt sein, Intimbereich
Scham und kulturelle Verschiedenheit
Auch wenn das Gefühl der Scham wohl universell ist, sind seine Ausprägungen je nach Zeit, Kultur und Religion sehr unterschiedlich. Insbesondere der nackte Körper, seine Ausscheidungen und seine schwer beherrschbare Triebhaftigkeit führen zu immer wieder anderen Formen, mit der Scham umzugehen. Scham ist darum das soziale Gefühl schlechthin, das den Umgang der Menschen miteinander begleitet und regelt, häufig unterhalb der Oberfläche des offen Gesagten.
Spannen, neugierig sein, fremde Sitten, Entschleiern, respektlos sein, Unverständnis, versteckte Kamera, Stuhlgang, nackt sein, kurze Röcke, ausgestellt werden, Erektion, Impotenz, eingeweiht werden, im Mittelpunkt stehen, Gesichtsverlust, keine Stimme haben, Lästern, verletzte Ehre, Indiskretion, Sünde, Schuldgefühl, geschändet werden, das Allerheiligste, Nächstenliebe
Scham, Stolz und Identität
Scham und Identität sind nicht voneinander zu trennen. Unser Bild von uns selbst ist nicht nur von biografischen Erlebnissen beeinflusst; auch der Stolz auf oder die Scham über Geschehnisse in der Gruppe oder der Nation, der man sich zugehörig fühlt, spielen eine wichtige Rolle. Immer geht es dabei um die Überschreitung von Grenzen: Was ist richtig, was angemessen oder erlaubt? Die Scham ist darum oft mit einem Gefühl der Unverhältnismäßigkeit verbunden, bei der das Menschliche auf der Strecke bleiben kann.
Geheimnisse, Familie, Fremdgehen, Stolz, Vergessen, Altern, Kontrolle, versagte Anerkennung, Starrheit, schlechte Witze, Grenzüberschreitung, deutsch sein, Erinnerungskultur, Hass, Bigotterie
Scham und Beschämung
Manche Beobachter beschreiben unsere Gegenwart als eine schamlose Zeit. Aber nach wie vor ist die Scham ein wichtiges Instrument zur Kontrolle des sozialen Miteinanders. In einer massenmedial geprägten Kultur gewinnt ihre Funktion als sozialer Affekt sogar zunehmend an Bedeutung. Scham kann den Wunsch zu helfen ebenso aktivieren wie sie in der Lage ist, Aus- und Abgrenzung zu begründen. Innerhalb und zwischen den Kulturen kann der Zusammenprall verschiedener Formen des Schamempfindens zu schweren Missverständnissen führen. Die Möglichkeit zur globalen Verbreitung von Texten, Bildern oder Filmen in den Sozialen Medien stellt die Frage nach der Notwendigkeit einer neuen, interkulturellen Schamkultur.
Obdachlosigkeit, Armut, Helfen, Image-Schaden, Unreinheit, Arbeitslosigkeit, Sucht, Einsamkeit, Prüderie, Zusammenhalt, Demütigung, Blackfacing, Entmenschlichung, Shitstorm, Anonymität, große Klappe, Benehmen, Kleckern, Peinlichkeit, feine Unterschiede, lange Röcke, Cruising, Zivilisationsprozess, Lachen, Naivität, scharfe Bilder, Perversion, schmutzige Fantasien
Jenseits und Diesseits der Scham
Scham wird heute nur noch selten für ein bürgerliches und repressives Gefühl gehalten, das der freien individuellen Entfaltung entgegensteht. Aber wie wird sich Scham als doppeldeutiges soziales Regulativ in Zukunft weiter entwickeln? Wird sie zu einem normativen Instrument oder erinnert sie an die Notwendigkeit, dass auch Normen begrenzt werden sollten? Würde so einer Menschlichkeit Raum gelassen, die über alles vertraut Menschliche hinausgeht?
Verurteilung, Schamlosigkeit, Selbstdarstellung, Seelenmord, Machtmissbrauch, Kleinfamilie, Mutterliebe, Narzissmus, Unvollkommenheit, anders sein, Empathie, sich zum Affen machen, Transparenz, Menschlichkeit, Scham
Rundgang
Pressestimmen
Daten & Fakten
Kurator: Daniel Tyradellis, Berlin
Ausstellungsgestaltung, -planung: Roger Bundschuh, Berlin
Wissenschaftliches Projektteam: Johanna Stapelfeldt, Sophie Plagemann, Cornelia Wagner
Projektkoordination: Sophie Plagemann, Cornelia Wagner
Produktionsleitung: Anna Kalvelage, KAWOKA Architekten, Berlin
Ausstellungsgrafik und Plakat: Yvonne Quirmbach, Berlin
Ausstellungsbau: Schelm & Sohn GmbH, Hannover, Werkstätten des Deutschen Hygiene-Museums unter der Leitung von Michal Tomaszewski
Video und Audiobearbeitung: Theo Thiesmeier
Miniaturräume: Axel Pinkow