Factum
Für ihre Serie Factum hat die Künstlerin Candice Breitz im Sommer 2009 intensive Gespräche mit acht eineiigen Geschwisterpaaren in und bei Toronto geführt: sieben Zwillingen und einmal Drillingen. Aus dem dabei entstandenen Bildmaterial entwickelte sie eine Drei-Kanal- und sieben Zwei-Kanal-Videoinstallationen. Angelehnt an Robert Rauschenbergs fast identische Gemälde Factum I und Factum II (beide von 1957), nach denen Breitz ihre Serie benannt hat, scheint jeder der befragten Menschen ein Faksimile seines Zwillings zu sein: Doch alsbald unterwandert eine Vielzahl feiner Unterschiede die scheinbare Identität.
Breitz entschloss sich, mit eineiigen Zwillingen zu arbeiten, die ihre prägenden Jahre gemeinsam verlebt hatten und daher auf gemeinsame Erinnerungen und Erfahrungen zurückgreifen konnten. Jedes Zwillingspaar wurde einen Tag lang im häuslichen Umfeld eines der Geschwister gefilmt. Diese durften selbst entscheiden, wo genau das sein sollte. Die meisten wählten eine ihrer Wohnungen oder ihr gemeinsames Zuhause aus.
Zunächst interviewte die Künstlerin jeweils etwa fünf bis sieben Stunden lang Zwilling A in Abwesenheit des Geschwisters. Anschließend stellte sie Zwilling B dieselben Fragen. Auf deren Grundlage sollte jede der Personen ihre eigene Geschichte nach ihrem Wunsch erzählen können. Die Fragen bezogen sich unter anderem auf Kindheit, Geschwisterrivalität und Familienangelegenheiten. Darüber hinaus ging es um Lebensauffassungen und Weltanschauungen.
Manche Fragen waren so gestellt, dass die Antworten Einblicke in das Geheimnis der Subjektbildung boten: Die Zwillinge wurden beispielsweise gebeten, sich zur Debatte über den Einfluss von Umwelt und Erbanlagen zu äußern, also dazu, was angeboren, was später erworben ist, oder ihre Gedanken zum Widerspruch zwischen Evolution und Schöpfung darzulegen. Andere Fragen betrafen private Erinnerungen oder Schlüsselerlebnisse. Einige, die darüber sprechen wollten, schilderten ihre Vergangenheit detailliert und ungeschminkt, andere hingegen zogen hier klare Grenzen. Manchen diente das Üben im autobiografischen Erzählen zugleich als Therapie, für andere war es eher ein Geständnis. Wieder andere nutzten die Interviews, um sich zu erinnern oder um zu überdenken, was es für sie bedeutet, ein Zwilling zu sein.
Alle Zwillingspaare wurden gebeten, sich für die Aufnahmen so ähnlich wie möglich zurechtzumachen. Inwieweit sie dieser Bitte nachkamen, blieb jedoch ihnen überlassen. Die sich ergebende vordergründige Gleichheit wurde für manche von ihnen zu einer Metapher für die Vorstellungen von Identität, denen sie bereits ihr ganzes Leben lang ausgesetzt waren.
Später wurden die Interviews der jeweiligen Zwillinge im Schneideraum miteinander verwoben, um quasi ein stereoskopisches Zwei-Kanal-Doppelporträt entstehen zu lassen. Breitz’ Bearbeitung betont die push and pull-Beziehung der Zwillinge. Während die Geschwister ihre Geschichten erzählen, werden die Unterschiede zwischen ihnen in Stimme, Meinungen, Körpersprache und Weltanschauung immer deutlicher. Manchmal bewegen sie sich aufeinander zu und verwenden beinahe dieselbe Syntax und Gestik, wenn sie von einer Erinnerung sprechen; dann wieder weichen sie erheblich voneinander ab, wenn es um Schlussfolgerungen zu Themen geht, die beiden wichtig sind.
Letztlich wirft Factum nicht nur Fragen dazu auf, was es heißt, ein Zwilling zu sein. Überdies ist das Ringen um eine eigenständige Persönlichkeit offenkundig – wie es jede Person austragen muss, die sie sich selbst als Individuum betrachtet und zugleich daran erinnert wird, dass auch andere beim Prozess der Selbstbestimmung eine Rolle spielen.
Die Serie Factum besteht aus Factum Bradley, Factum Hawke, Factum Jacob, Factum Kang, Factum McNamara, Factum Misericordia, Factum Tang und Factum Tremblay.
Foto: Candice Breitz, Factum Tremblay, 2009, from the series Factum, 2010, Dual-Channel Video Installation, 78:08 min, Commissioned by The Power Plant, Toronto, Courtesy: Goodman Gallery, London + Johannesburg