Die Leidenschaften Ein Drama in fünf Akten

25. Feb 2012 - 30. Dez 2012

Eine Ausstellung des Deutsche Hygiene-Museums

Einführung

Die Leidenschaften sind die vehementesten unter den menschlichen Gefühlen. Nicht nur unser Alltagsleben ist von ihnen geprägt, auch in der Welt der Politik und der Kunst, des Sports oder der Wirtschaft läuft ohne Leidenschaften fast nichts: Sie sind die Triebkräfte von Soap-Operas ebenso wie von großen Tragödien, sie beeinflussen die Weltgeschichte und können noch den kleinlichsten Nachbarschaftsstreit auslösen. Dabei sind sie schon immer als äußerst widersprüchliche Gefühlslagen wahrgenommen worden, die uns zu den erstaunlichsten Leistungen anstacheln und gleichzeitig zu den übelsten Niederträchtigkeiten verführen können.

Mit ihrer spannungsreichen Gegenüberstellung von ebenso kostbaren wie profanen Exponaten hat die australische Kuratorin Catherine Nichols ein Theaterstück zur Kulturgeschichte der Leidenschaften von der Antike bis in unsere Gegenwart entwickelt. Inszeniert haben es die französisch-iranische Opernregisseurin Mariame Clément www.mariameclement.net und die Berliner Bühnenbildnerin Julia Hansen www.juliahansen.net als eine epochen- und disziplinübergreifendes Projekt, dessen Szenografie ein absolutes Novum darstellt: Die Besucherinnen und Besucher erlebten in einem begehbaren und sich von Akt zu Akt verwandelnden Bühnenbild ein Drama, in dem die Leidenschaften als Hauptfiguren auftreten.

Künster*innen und Werke (Auswahl)

William Hogarth, Marriage à-la-Mode, 1745 (4. Ehe) 
Susanne Mewing, Platons Kugelmensch, 2007 (3. Liebe) 
Bruce Nauman, Five Pink Heads in the Corner, 1992 (4. Erziehung) 
Gerhard Richter, Bild 194/11 (Cloudy – Wolkig), 1968 (2. Stille und Stille) 
Sam Taylor-Wood, A little Death, 2002 (3. Ekel)

Abteilungen

1. Akt: Exposition

[Im Gefühlshaushalt, abends. Eine gewöhnliche Wohnung mit Esszimmer, Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer und Bad, stellenweise etwas altmodisch. Überall liegen, stehen und hängen Dinge, in denen DIE LEIDENSCHAFTEN seit der Antike ihre Spuren hinterlassen haben. Gemütliches Licht. Bewohnte Atmosphäre, auf den ersten Blick alltäglich.]

Die Besucher treten auf. In aller Ruhe schauen sie sich um und bewegen sich von einem Raum zum nächsten. In offene Schränke und Schubladen sehen sie neugierig hinein; verstohlene Blicke werfen sie unter das Bett, hinter den Duschvorhang, ins Tiefkühlfach. So wissensdurstig sie auch sind, möchten sie trotzdem nichts anfassen: Wer weiß, wann sich DIE LEIDENSCHAFTEN hinzugesellen werden.

SIE (leise vor sich hin murmelnd):

DIE LEIDENSCHAFTEN sollen also hier zu Hause sein? Wer mag sich in einem solchen Zimmer denn heimisch fühlen? Ich meine, wer hängt sich ein Krokodil über den Tisch? Man will doch nicht gleich als Erstes überfallen werden, wenn man eine Wohnung betritt – oder vielleicht doch? Hier ist ja immerhin was los … Doch was sind DIE

LEIDENSCHAFTEN überhaupt? Sind sie wilde Bestien, die uns stets auflauern? Oder sind es einfach Dinge, die wir gern machen und mögen? Wie drücken sie sich aus? Wie fühlen sie sich an? Was machen sie mit uns und unserem Körper? Wie soll ich das bloß beschreiben? … Was sagen die anderen dazu?

Sie improvisieren weiter.

2. Akt: Konflikt

[Weiterhin im Gefühlshaushalt, etwas später. Eine strenge Diagonale hat den Raum zweigeteilt. Auf der einen Seite stehen alle Möbel am Platz, als ob die Putzfrau gerade gegangen sei; auf der anderen sind sie auf einer schiefen Ebene angeordnet, die sie jederzeit ins Rutschen bringen kann. Die im Zimmer verteilten Gegenstände verkörpern unterschiedliche Auffassungen DER LEIDENSCHAFTEN von der Antike bis in die Gegenwart; Stück für Stück übertragen sie unsere Ideengeschichte von den gelben Büchern in den Raum. Der Konflikt ist spürbar.]

Die Wohnung wird ihnen immer vertrauter, ihre Neugierde nimmt zu: Im zweiten Akt betreten sie die Bühne, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie haben zwar eine klarere Vorstellung, wo sie sich befinden, aber hier macht ihnen die Schieflage zu schaffen. Auf der einen Seite des Raumes bewegen sie sich wie gehabt, auf der anderen gehen sie langsamer, zögerlicher vor. Ein wenig Übelkeit lässt sich kaum vermeiden.

SIE (grübelnd):

Was ist das Problem mit DEN LEIDENSCHAFTEN? Sind sie ein Antrieb – oder eher ein Störenfried? Die einen Theoretiker halten wohl ein richtiges Maß an Leidenschaften für eine gute Sache und frischen Wind in den Segeln für lebensnotwendig. Doch die anderen wollen ja das Schiff ‚Mensch‘ am liebsten gar nicht aus dem Hafen auslaufen lassen … Zu welcher Seite gehöre ich? Gebe ich mich meinen Leidenschaften hin, oder will ich lieber die Kontrolle behalten?

3. Akt: Höhepunkt

[Weiterhin im Gefühlshaushalt, nachts. Der Sturm DER LEIDENSCHAFTEN ist aufgekommen, die Wohnung steht "auf dem Kopf". Die Möbel sind zum Teil zerstört und durch den Raum gewirbelt. Trümmerinseln haben sich gebildet, die sich je einer Leidenschaft - - einer Basisemotion - widmen. Dramatisches Licht. Die Stimmung: aufwühlend, wild, vital.]

Selbstvergessen durchwandern sie die Trümmerlandschaft. Sichtlich wundern sie sich über die Wucht, über die unerbittliche Kraft und Dynamik DER LEIDENSCHAFTEN. sie würden gern ihren sachlichen Blick beibehalten. Doch an ihrer Körpersprache erkennt man, dass sie mal Zuneigung, mal Abneigung, mal Lust, mal Unlust empfinden– und zwar heftig. ihnen ist nicht mehr klar, ob sie hier zu Gast oder vielleicht doch eher zu Hause sind.

SIE (ganz schön außer sich):

Da sind sie: Liebe! Begierde! Neid! Zorn! Angst! Scham! Ekel! Hass! Trauer! Freude! Staunen! Es sind DIE LEIDENSCHAFTEN, die wir alle kennen, nach denen wir uns sehnen und die wir ebenso sehr fürchten. Doch was löst sie aus? Wie drücken sie sich aus? Und zu welchen Handlungen verführen sie uns?

4. Akt: Wendung

[Immer noch im Gefühlshaushalt, am Tag danach: Der Sturm ist abgeflaut; DIE LEIDENSCHAFTEN sind fort. Das Mobiliar der Wohnung ist mühselig wieder zurechtgerückt. Was zerbrochen war, wurde geflickt, einige Risse bleiben sichtbar. Es herrscht eine aufklärerische Stimmung. Das Licht ist entsprechend hell.]

Sie haben wieder festen Boden unter den Füßen. Erleichtert, womöglich etwas wehmütig atmen sie zunächst einmal aus und beginnen, sich zu sortieren. Mit einem prüfenden Blick schreiten sie von Zimmer zu Zimmer. Sie genießen den Frieden, trauen ihm aber nicht ganz. Dass sie zwischen Billigung und Zweifel schwanken, können sie nur schwer verbergen.

SIE (relativ sachlich):

Unsere Kultur hat anscheinend einiges hervorgebracht, womit DIE LEIDENSCHAFTEN gebändigt oder sogar eingefangen und eingesetzt werden können. Wir müssen doch schließlich gut miteinander klarkommen, nicht wahr? Ich sehe hier Erziehung und Religion, Medizin und Hygiene am Werk. Aber offenbar spielen Ehe und Sexualität, Freizeit und Unterhaltung, Arbeit, Recht und Ordnung eine ebenso wichtige Rolle. Mit welchen Methoden versucht man denn, DIE LEIDENSCHAFTEN zu bändigen? Wirken sie überhaupt? Wenn ich es richtig erkenne, beruhen viele der Methoden auf Liebe, Angst oder Scham. Regulieren wir etwa Affekte mit Affekten?

5. Akt: Die AUflösung

[Im Garten des Gefühlshaushalts, gegen Abend. Der Raum weitet sich: Um die Wohnung herum stehen Parkbänke, rechts eine Litfaßsäule mit Werbung. In der Wohnung brennt gemütliches Licht. Das Essen steht auf dem Tisch. Hinter dem Vorhang in der Küche bewegt sich etwas. Hier ist eindeutig jemand zu Hause, vermutlich DIE LEIDENSCHAFTEN.]

Plötzlich befinden sie sich im Freien und schauen von außen durch die Fenster in die ihnen vertraute Wohnung. Sie freuen sich über den Perspektivwechsel und vor allem über die frische Luft. Sie sehen sich die Diashow im Esszimmer an und wandern danach beschwingt von Fenster zu Fenster, an der Litfaßsäule vorbei. Sie ruhen sich eine Weile auf einer Bank aus, bevor sie langsam auf den Schluss zuschlendern.

SIE (fragend, suchend):

Ich frage mich, ob wir nicht anders über DIE LEIDENSCHAFTEN nachdenken könnten? Dieser ewige Machtkampf zwischen Vernunft und Gefühl ist zwar spannend und auch Teil unserer Geschichte, aber geht es denn nur so? Ich meine, ist das Mitgefühl nicht auch eine der Leidenschaften? Schließlich kann es uns ebenso heftig überfallen wie Zorn, Neid, Begierde oder Freude. Wenn wir bedenken, dass uns das Mitgefühl dabei hilft, für andere Menschen da zu sein – und sogar unsere heftigsten Gefühle im Zaum zu halten – dann können wir uns bestimmt besser mit DEN LEIDENSCHAFTEN anfreun-den… Aber reicht allein das Mitfühlen? Müssen wir nicht außerdem noch handeln?

Alle ab. Der Vorhang fällt.

Rundgang